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Der Narzissmus etabliert sich als Ideal

Die Zunahme des Narzissmus in jüngerer Zeit ist mitverantwortlich für die steigende Kränkbarkeit der modernen Gesellschaft. Denn die eigenen Bedürfnisse, das Durchsetzen der persönlichen Ansprüche und die Selbstdarstellung sind vor allem bei Jugendlichen extrem wichtig geworden. Reinhard Haller erläutert: „Epidemiologische Untersuchungen belegen ein starkes Ansteigen der sogenannten Narzissmusparameter. Globalisierung und Vernetzung fördern diese Entwicklung.“ Dabei hat sich der Raubtierkapitalismus etabliert und es kam zu Finanzcrashs infolge von Spekulationen mit Scheinwerten. Ebenso hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert und die Umwelt wurde auf Kosten zukünftiger Generationen zerstört. Selbst Papst Franziskus hat kurz vor seiner Wahl im Konklave den Narzissmus für die Krise der Kirchen und Religionsgemeinschaften verantwortlich gemacht. Der Psychiater und Psychotherapeut Reinhard Haller arbeitet vornehmlich als Therapeut, Sachverständiger und Vortragender.

Mitmenschlichkeit und Solidarität bleiben auf der Strecke

Der Narzissmus hat über Jahrhunderte hinweg als Sünde und Makel gegolten. Mit der Etablierung der Psychiatrie als medizinischer Wissenschaft galt er als krankhafte Störung. In den letzten Jahren hat sich der Narzissmus allerdings als gesellschaftliches Ideal etabliert. In Zeiten der Globalisierung und Vernetzung konnte sich der ursprünglich nur den Mächtigen vorbehaltene Narzissmus demokratisieren. Gleichzeitig sind alte Tugenden wie Demut und Bescheidenheit verdrängt worden.

Tatsächlich hat der Mensch heute allen Grund, narzisstisch zu sein. Und die allgemeine Verbreitung eines gesunden Narzissmus ist keinesfalls etwas Schlechtes. Reinhard Haller warnt: „Aber die Dosis macht das Gift. In manchen Bereichen spüren wir zu viel des Narzisstischen. Denn wenn Egozentrik und Empathielosigkeit überhandnehmen, wird es kalt in unserer Gesellschaft.“ Mitmenschlichkeit und Solidarität bleiben dann zwangsläufig auf der Strecke. In einer immer narzisstischer werdenden Gesellschaft, in welcher eigene Verletzlichkeit und Entwertung anderer Menschen wichtige Elemente sind, ist ein Anstieg der kollektiven Kränkung unvermeidbar.

Drei Kränkungen betreffen die ganze Menschheit

Ständige Kränkungen und eigene Gekränktheiten der Narzissten sind am ehesten zu ertragen, wenn man ihnen mit einem Schuss Humor begegnet. In keinem anderen Bereich zeigt sich die Wirkungskraft der Demütigung deutlicher als bei den kollektiven Kränkungen. Denn Demütigungen wirken sich stärker als alle anderen Emotionen auf das Fühlen, Denken, und Handeln von Gruppen oder ganzen Völkern aus. Sie setzten mächtige soziale Energien frei, die zu verhängnisvollen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen führen können.

Reinhard Haller fügt hinzu: „Zu diesen kollektiven Kränkungen sind auch jene zu zählen, welche die Menschheit in ihrer Gesamtheit treffen, wenngleich hier keine gruppendynamischen Prozesse ablaufen.“ Sigmund Freud, der Urvater der Psychodisziplinen, schrieb in seinem Werk „Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse“ (1917) über drei Kränkungen, welche die ganze Menschheit betreffen: die Kopernikanische, die Darwinsche und die Freudsche. Quelle: „Die Macht der Kränkung“ von Reinhard Haller

Von Hans Klumbies

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